Psychische Erkrankungen

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Psychische Erkrankungen sind auf der Straße allgegenwärtig – sie werden schnell zu einem täglichen Begleiter im Leben vieler Obdachloser. Schätzungen zufolge haben etwa 90 % der obdachlosen Menschen mindestens eine diagnostizierte psychische Erkrankung. Dieser erschreckend hohe Anteil wurde durch die SEEWOLF-Studie (Seelische Erkrankungsrate in den Einrichtungen Wohnungslosenhilfe im Großraum München) der Technischen Universität München bestätigt. Die 2017 veröffentlichte Studie untersuchte die seelische und körperliche Gesundheit wohnungsloser Menschen im Großraum München und ist bis heute eine der fundiertesten Analysen zu diesem Thema in Deutschland.

Die SEEWOLF-Studie hat mit klaren Zahlen verdeutlicht, wie hoch die Belastung durch psychische Krankheiten für Menschen ohne festen Wohnsitz tatsächlich ist. Viele Menschen auf der Straße kämpfen täglich gegen Depressionen, Angststörungen, posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) und andere schwere psychische Leiden. Die Studie fand auch heraus, dass das Risiko für solche Erkrankungen bei wohnungslosen Menschen wesentlich höher ist als in der Allgemeinbevölkerung. Die Belastung durch das Leben auf der Straße, die soziale Isolation, der ständige Überlebenskampf und die Konfrontation mit Diskriminierung und Gewalt führen oft zu einer Verschlimmerung bereits bestehender Erkrankungen oder zur Entwicklung neuer psychischer Leiden.

Doch die SEEWOLF-Studie beleuchtete nicht nur die seelischen Zustände, sondern auch die körperlichen Folgen des Lebens ohne festen Wohnsitz. Sie machte deutlich, wie eng physische und psychische Gesundheit zusammenhängen und wie sich das Fehlen einer festen Unterkunft, mangelnde Versorgung und das belastende Umfeld wechselseitig negativ beeinflussen.

Die Erkenntnisse der SEEWOLF-Studie sind nicht nur alarmierend, sondern werfen auch ein Schlaglicht auf den dringenden Handlungsbedarf im Bereich der Wohnungslosenhilfe. Sie zeigt auf, wie notwendig ein erweitertes Verständnis und gezielte Maßnahmen im Bereich der Gesundheitsversorgung und psychischen Betreuung von obdachlosen Menschen sind, da die Angebote in vielen Fällen nicht ausreichend sind.

 

 

Selbstverletzendes Verhalten (SVV) ist auf der Straße ein weit verbreitetes Phänomen, das oft Ausdruck von tiefem Schmerz, Selbsthass oder einer Art „stiller Bestrafung“ für das ist, was die Betroffenen erlebt haben. Viele der Menschen, die ich kennenlernen durfte, hatten eine ganz eigene Art, sich selbst zu verletzen oder sogar zu bestrafen – Verhaltensweisen, die sich bei genauerem Hinsehen als eine Form von Selbstverletzung herausstellten. Dabei reicht das Spektrum weit über die „klassische“ Form der Selbstverletzung hinaus, die oft verallgemeinernd als „Ritzen“ bezeichnet wird und damit eine ernste Problematik auf ein Wort reduziert, das zu oft abfällig benutzt wird. Es geht um weit mehr: Viele wenden Alkohol- oder Drogenkonsum als eine Form der schleichenden Selbstschädigung an.

Der Begriff „schleichender Tod“ beschreibt diesen Mechanismus nur allzu treffend. Hier geht es nicht um einen direkten Auslöser, sondern um ein ständiges „Betäuben“ und „Flüchten“, das sich im Laufe der Zeit immer tiefer verankert. Die Studienlage unterstützt diese Beobachtungen: Eine Studie von Favazza und Rosenthal zeigt, dass selbstverletzendes Verhalten oft in Verbindung mit Traumata, psychischen Erkrankungen und sozialer Isolation auftritt. Besonders die Kombination von Obdachlosigkeit und chronischen Traumata führt häufig zu SVV, da viele obdachlose Menschen ihren psychischen Schmerz oder die Hilflosigkeit kompensieren wollen – sei es durch bewusste Selbstverletzung, gefährliches Verhalten oder durch den Griff zu Drogen und Alkohol, die eine dämpfende Wirkung auf die Psyche haben. Die Forschung des National Institute of Mental Health bestätigt, dass Drogen- und Alkoholkonsum auf eine Weise zur Selbstverletzung gezählt werden kann, da er in vielen Fällen auf das gleiche Ziel hinausläuft: die temporäre Unterdrückung psychischer Schmerzen und das Ausblenden von Erinnerungen oder belastenden Gefühlen. Menschen, die von der Gesellschaft als „Junkies“ oder „Alkoholiker“ abgestempelt werden, haben oft einen langen Weg voller Traumata hinter sich, und Substanzen wie Alkohol oder Drogen bieten in ihrer Wahrnehmung den einzigen Ausweg. Sie fungieren wie ein Betäubungsmittel gegen die unerträgliche psychische Last, die diese Menschen tragen – für viele ist es die einzige Möglichkeit, ihre Gefühle zu kontrollieren oder sich kurzfristig besser zu fühlen.

Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) berichtet, dass besonders bei obdachlosen Menschen eine erhöhte Quote an Substanzgebrauch und -abhängigkeit besteht, da Drogen und Alkohol als Bewältigungsmechanismen dienen. Die SEEWOLF-Studie fand ähnliche Ergebnisse und bestätigte, dass viele Menschen auf der Straße nicht nur körperlich, sondern auch psychisch stark belastet sind, was den Teufelskreis von Selbstverletzung und Substanzgebrauch zusätzlich verstärkt.

Solange der Schmerz und die Narben, die durch ein Leben voller Entbehrungen und Verluste entstanden sind, nicht anerkannt und behandelt werden, bleibt der „schleichende Tod“ eine allzu reale Gefahr – eine Art von Selbstzerstörung, die über Jahre hinweg langsam wirkt. Für viele dieser Menschen ist die Selbstverletzung, in welcher Form auch immer sie auftreten mag, kein Zeichen von Schwäche oder eine „Jugendsünde“, sondern ein verzweifeltes Überlebensmittel, das ihre psychischen Wunden zu verbergen versucht und das als letzte Instanz zwischen dem Schmerz und der völligen Aufgabe dient.

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