"Die Menschen sollten mehr lächeln": Tobis Geschichte

Veröffentlicht am 15. November 2024 um 19:05

Lesedauer: ca 5 min

Name: (Chaos)Tobi

Alter: 31

Wie lange auf der Straße: seit 13 Jahren

Tobi ist 31 Jahre alt und lebt seit unglaublichen 13 Jahren auf der Straße. Seine Heimat ist Kassel, eine Stadt, die er inzwischen wie seine Westentasche kennt. Ich habe Tobi vor etwa vier Jahren zum ersten Mal getroffen. Schon damals fiel mir seine Mischung aus Direktheit und Nachdenklichkeit auf, die ihn als Menschen ausmacht. 

Tobi hat sich entschieden, seine Geschichte im Rahmen dieses Projekts zu teilen. Das ist keine leichte Entscheidung, denn es erfordert Mut, Einblicke in eine Lebensrealität zu geben, die von vielen nicht verstanden oder bewusst übersehen wird. 

Viele der Aussagen, die hier aufgeschrieben wurden, sind direkt von ihm geäußerte Zitate. Es war mir wichtig, seine Worte unverändert zu lassen, weil sie einen tiefen Einblick in seine Erlebnisse und Gefühle geben.

Tobi hat eine schwierige Vergangenheit hinter sich. Er lebte einige Zeit in einer Einrichtung für Eingliederungshilfe, ein Ort, der ihm zunächst Stabilität geben sollte. Doch an Heiligabend vor 13 Jahren änderte sich sein Leben dramatisch: „Sie haben mich einfach rausgeworfen.“ Von einem Moment auf den anderen stand er vor dem Nichts. Ohne Plan und ohne Zuhause kehrte er zurück nach Kassel, wo seine ältere Schwester lebte. Für kurze Zeit konnte sie ihn bei sich aufnehmen, doch auch das fand bald ein Ende.

Eines Tages wurde Tobi von der Polizei wegen einer nicht bezahlten Geldstrafe verhaftet und musste ins Gefängnis. „Ein halbes Jahr – das hat mir mehr als gereicht“, sagt er rückblickend. Als er entlassen wurde, landete er endgültig auf der Straße. „Vom System allein gelassen“, so beschreibt er die Situation, in der er sich damals befand. Ohne Perspektive, ohne Unterstützung und ohne die Möglichkeit, irgendwo Fuß zu fassen, begann für Tobi ein Leben am Rande der Gesellschaft, das bis heute andauert.

Von diesem Moment an begann Tobi, Pfandflaschen zu sammeln, um irgendwie über die Runden zu kommen. Es war ein harter Start in ein noch härteres Leben. Heute, viele Jahre später, erzählt er mir, dass sein Alltag nach wie vor vom Kampf ums Überleben geprägt ist. Pfandsammeln, Schnorren, und der ständige Versuch, den Tag irgendwie zu bewältigen, bestimmen seine Routine.

Um diesen anstrengenden Alltag zu ertragen, griff Tobi in der Vergangenheit zu verschiedenen Suchtmitteln. „Aber heute trinke ich nur noch Bier und kiffe“, erzählt er offen. Dabei zeigt er einen Anflug von Humor, als er hinzufügt: „Ein Joint am Morgen und ein Bier, schon gehört der Tag dir.“ Tobi lacht, doch hinter seinem humorvollen Spruch verbirgt sich eine bittere Wahrheit: Um den Alltag zu überstehen, musste er lange die Balance zwischen Betäubung und Routine finden. Doch seine Freunde, die während unseres Gesprächs dabei sitzen, betonen stolz, dass er seinen Konsum inzwischen deutlich reduziert hat. Dafür sei vor allem seine Verlobte Lena verantwortlich, die ihm dabei geholfen hat, sein Leben nachhaltig zu verändern.

Dank ihrer Unterstützung hat Tobi es geschafft, keine chemischen Drogen mehr zu konsumieren, und auch Schnaps ist für ihn Geschichte. „Mir ist wichtig, dass er auf den richtigen Weg kommt“, sagt Lena mit entschlossener Stimme. „Ich will ihm die Chance auf eine schönere Zukunft geben.“

Und wie sieht diese Zukunft aus? Mit einem sanften Lächeln beschreibt Tobi sein Bild vom Leben, das vor ihm liegt: eine kleine Gartenhütte mit Holzofen, ein üppiger Garten voller selbst angebautem Gemüse und jede Menge Tiere. Schafe, Ziegen, Kühe – und natürlich ein Hund. „Aber ohne meine Frau kann ich mir das alles gar nicht vorstellen“, fügt er hinzu. Lena ist für ihn nicht nur ein Lichtblick, sondern ein fester Bestandteil seiner Träume von einem besseren Leben.

Trotz allem, was Tobi bereits durchgemacht hat – unerwartete Angriffe, den Verlust enger Freunde und die ständige Härte des Lebens auf der Straße – beeindruckt er mit seiner positiven Ausstrahlung. Während unseres Gesprächs erzählt er ausführlich von den dunkelsten Momenten seiner Zeit auf der Straße, von der Gewalt, die ihm widerfahren ist, und von den Vorurteilen, mit denen er täglich konfrontiert wird. Auf meine Frage, was das Leben auf der Straße erträglicher machen könnte, antwortet er überraschend einfach: „Die Menschen sollten mehr lächeln.“

Das Vorurteil, dem er am häufigsten begegnet, ist, dass er als faul abgestempelt wird und man ihm sagt, er solle „einfach arbeiten gehen.“ Doch Tobi hält der Härte dieser Worte seine Menschlichkeit entgegen. „Die Leute sind so egoistisch, das verstehe ich nicht“, sagt er nachdenklich. „Wenn ich jemanden sehe, der friert, und ich habe eine Decke übrig, dann gebe ich sie ihm. Natürlich. Ich habe zwar nicht viel, aber das teile ich. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz auf der Straße.“

Diese Aussage berührt mich besonders. Sie zeigt, wie viel Solidarität und Mitgefühl selbst in den schwierigsten Lebenslagen existieren kann – und sie ist für mich ein stiller Beweis dafür, wie sehr wir alle voneinander lernen könnten. 

Tobi spricht offen über seine Sicht auf Konsum und die Auswirkungen, die er auf die Menschen hat. „Konsum macht Menschen gierig. Sie lügen, spielen sich gegenseitig aus und ziehen einander runter“, sagt er mit deutlicher Abneigung. Sein Verhältnis zu Drogen ist ähnlich klar: Er hasst sie. Diese Abgrenzung hat ihm geholfen, trotz des schwierigen Lebens auf der Straße, eine innere Haltung zu entwickeln, die er fest vertritt.

Als ich ihn frage, welche Botschaft er den Menschen mitgeben möchte, hält er inne und überlegt einen Moment. Dann sagt er: „Die Menschen sollten weniger egoistisch sein, mehr teilen, füreinander da sein.“ Diese Worte tragen eine Schlichtheit in sich, die nicht belehrend wirkt, sondern vielmehr das Bedürfnis nach Mitmenschlichkeit in den Vordergrund stellt. Sie spiegeln das wider, was Tobi auf der Straße gelernt hat: dass Teilen und gegenseitige Unterstützung oft der einzige Weg sind, um zu überleben – und dass genau diese Werte der Gesellschaft außerhalb seiner Welt häufig fehlen.

 

Tobi hat mir so vieles erzählt, doch eines blieb besonders hängen: sein Appell für mehr Mitgefühl, für „mehr Herz“. Und wie recht er damit hat. Statt Menschen, die auf der Straße leben, mit Vorurteilen und Abneigung zu begegnen, könnten wir alle lernen, ein wenig mehr füreinander da zu sein.

Er bringt es selbst auf den Punkt: „Die Menschen sollten einmal in meinen Schuhen laufen, damit sie wissen, wie die Scheiße schmeckt.“ Dieser Satz mag hart klingen, doch genau das macht ihn so kraftvoll. Es ist eine Einladung, nicht nur hinzusehen, sondern nachzufühlen. Denn nur wer versucht, die Perspektive eines anderen einzunehmen, kann wirklich verstehen, wie wichtig Empathie ist – gerade für jene, die jeden Tag mit der Kälte der Straße, der Gesellschaft und manchmal auch des Lebens kämpfen.

Tobi hat Träume, Wünsche und Werte, die ihn trotz aller Widrigkeiten antreiben. Seine Geschichte ist eine Mahnung, dass hinter jedem obdachlosen Menschen ein Mensch mit Erfahrungen, Hoffnungen und einer eigenen Stimme steckt. Er wünscht sich nicht viel – nur ein bisschen mehr Menschlichkeit in der Welt. Und wer weiß, vielleicht liegt genau darin der Schlüssel, um diese Welt ein kleines bisschen wärmer zu machen.


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