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Diejenigen, die mich kennen, wissen, dass ich ein tief hinterfragender, gesellschaftskritischer Mensch bin. Genau in diesem Geist steht auch dieses Projekt: Es ist mein Versuch, Gesellschaftskritik in eine Form zu bringen, die hinter die Kulissen schaut und unsere Wahrnehmungen von Obdachlosigkeit und sozialem Ausschluss hinterfragt.
In diesem Artikel möchte ich die Vorurteile näher beleuchten, mit denen Obdachlose täglich konfrontiert sind. Dafür habe ich Gespräche geführt, Menschen gefragt, was ihnen spontan zum Thema Obdachlosigkeit in den Sinn kommt – vor allem, welche Vorurteile ihnen zuerst einfallen. Es wird oft gesagt, Obdachlose seien selbst schuld an ihrer Situation, sie seien faul, gefährlich oder hätten ihre Notlage durch Drogenmissbrauch herbeigeführt. Diese Aussagen spiegeln weit verbreitete Vorurteile wider, die tiefe Wurzeln in unserer Gesellschaft haben.
Aber warum denken viele von uns so? Woher kommen diese starken, oft unbewussten Vorurteile?
Schon als Kind erinnere ich mich, dass man mir sagte, ich solle einen Bogen um Menschen machen, die auf der Straße um Kleingeld baten. „Diese Menschen sind schmutzig, gefährlich, drogensüchtig“, hieß es. Solche pauschalen Annahmen schüren Ängste und schaffen Distanz, die es uns leichter machen, wegzusehen. Diese festgefahrenen Vorstellungen tragen dazu bei, dass Obdachlose nicht als Individuen wahrgenommen werden, sondern als eine homogene, verachtete Gruppe.
Indem wir diesen Vorurteilen auf den Grund gehen, wird deutlich, wie eng unsere Wahrnehmung mit sozialer Konditionierung verknüpft ist. Solange es einfacher ist, eine Person auf der Straße als „selbstverschuldet“ abzutun, bleiben wir als Gesellschaft blind gegenüber den systemischen Problemen und dem Mangel an Unterstützung, der viele in diese Situation führt.
- „Obdachlose sind faul und wollen nicht arbeiten“
Viele Obdachlose haben Arbeitserfahrung oder sogar abgeschlossene Ausbildungen, finden aber aufgrund von psychischen Problemen, gesundheitlichen Einschränkungen oder fehlendem Zugang zu Ressourcen keinen Job mehr. Das Leben auf der Straße erschwert zudem eine regelmäßige Beschäftigung, da grundlegende Dinge wie Hygiene oder Unterkunft oft fehlen. - „Sie sind selbst schuld an ihrer Lage“
Obdachlosigkeit entsteht oft durch eine Verkettung unglücklicher Umstände, wie der Verlust des Arbeitsplatzes, Scheidungen, psychische Erkrankungen oder der Tod eines Familienmitglieds. Viele Menschen verlieren unverschuldet ihre Wohnung und rutschen aufgrund fehlender sozialer Sicherheitsnetze in die Obdachlosigkeit. - „Obdachlose sind drogen- und alkoholsüchtig“
Zwar ist Abhängigkeit ein häufiger Begleiter von Obdachlosigkeit, doch die Sucht ist oft eher eine Folge als eine Ursache. Menschen auf der Straße greifen oft zu Drogen oder Alkohol, um mit den physischen und psychischen Belastungen ihres Lebens fertigzuwerden. Das Vorurteil ignoriert die soziale und medizinische Unterstützung, die viele Menschen benötigen. - „Obdachlose sind kriminell und gefährlich“
Studien zeigen, dass Obdachlose eher Opfer als Täter sind, da sie aufgrund ihrer Lebenslage häufiger mit Gewalt konfrontiert werden. Viele kämpfen täglich darum, unsichtbar zu bleiben, um Übergriffe zu vermeiden. - „Obdachlose wollen auf der Straße bleiben“
Die meisten Obdachlosen wünschen sich ein festes Dach über dem Kopf und ein sicheres Leben. Viele scheuen jedoch die Übernachtung in Notunterkünften wegen Überfüllung, Gewalt oder Diebstahl. Häufig fehlen auch realistische Perspektiven auf ein eigenes Zuhause. - „Obdachlosigkeit betrifft nur ältere Menschen“
Obdachlosigkeit kann Menschen jeden Alters treffen. Immer mehr Jugendliche und junge Erwachsene leben auf der Straße, oft aufgrund von familiären Konflikten, Gewalt oder Vernachlässigung im Elternhaus. Diese Gruppe hat andere Bedürfnisse und benötigt spezielle Unterstützung. - „Obdachlose wollen kein soziales Leben führen“
Menschen ohne festen Wohnsitz sind oft stark isoliert. Sie leiden unter Einsamkeit und sozialer Ablehnung und wünschen sich Beziehungen und Anerkennung, können diese jedoch nur schwer aufrechterhalten. Sozialer Ausschluss verstärkt häufig die bestehende Notlage.
- „Obdachlose geben das Geld nur für Alkohol und Drogen aus“
Zwar gibt es Fälle, in denen das Spendengeld für solche Zwecke verwendet wird, doch viele Obdachlose nutzen Spenden für Essen, Hygieneartikel oder Kleidung. Das Vorurteil dient oft dazu, selbst kleinere Hilfeleistungen zu unterlassen. - „Obdachlose könnten leicht wieder ein normales Leben führen“
Viele Faktoren erschweren die Rückkehr in ein normales Leben: fehlender Wohnraum, schlechte Gesundheit, psychische Belastungen und mangelnde Unterstützung. Ohne gezielte, langfristige Unterstützung bleibt eine stabile Reintegration für viele eine große Herausforderung. - „Obdachlose sind sichtbar und fallen sofort auf“
Nicht alle Menschen ohne festen Wohnsitz leben auf der Straße. Viele „versteckte Obdachlose“ übernachten bei Freunden oder Bekannten, pendeln von einer temporären Unterkunft zur nächsten oder bleiben vorübergehend in Einrichtungen. Diese Unsichtbarkeit erschwert den Zugang zu Hilfsangeboten und verstärkt das Stigma, weil die gesellschaftliche Vorstellung von Obdachlosigkeit oft unvollständig ist.
Aber warum haben wir nun denn diese Vorurteile?!
Oben bin ich ja bereits ein klein wenig auf mögliche Ursachen eingegangen. Aber wann haben wir als gesamte Gesellschaft entschieden, dass Menschen, die nichts haben und kein Dach über dem Kopf haben, „Abschaum“ sind?
Um es offen zu sagen – ich habe keine Ahnung, warum man Menschen, die Hilfe benötigen, lieber Stigmatisierung entgegenbringt, anstatt ihnen die nötige Unterstützung zu bieten. Vielleicht liegt es an tief verwurzelten Annahmen, dass Erfolg oder Wohlstand auch mit moralischem Wert gleichzusetzen sind. In unserer modernen, westlichen Gesellschaft wird oft propagiert, dass jeder für sein eigenes Leben, seine Erfolge und Misserfolge verantwortlich sei. In der Konsequenz wird Armut nicht als Resultat sozialer oder struktureller Probleme gesehen, sondern als persönliches Versagen. Die Verantwortung wird weg von der Gesellschaft auf das Individuum verlagert. Ein obdachloser Mensch gilt dann nicht mehr als jemand, der Unterstützung braucht, sondern als jemand, der „etwas falsch gemacht“ hat.
Und warum entscheiden wir uns als Gesellschaft für eine solche Haltung? Vielleicht weil es so einfach ist. Es ist leichter, Menschen abzustempeln und ihre Situation als Konsequenz ihres Lebensstils abzutun, als sich mit den zugrundeliegenden, oft komplexen Ursachen auseinanderzusetzen. Es ist einfacher, sich als sicher oder „besser“ zu fühlen, wenn man sich auf einer gesellschaftlichen Hierarchieleiter fest verankert sieht, als zuzugeben, dass viele von uns – mit dem Verlust eines Jobs, einer plötzlichen Krankheit oder einem familiären Notfall – selbst in ähnliche Situationen geraten könnten. Diese Vorurteile schaffen eine Art psychologischen Schutzschild, der uns davor bewahrt, die Unsicherheit unserer eigenen Lebenssituation anzuerkennen. Die gesellschaftliche Stigmatisierung von obdachlosen Menschen wird so zu einer Möglichkeit, Distanz zu wahren, die uns vor unserer eigenen Angst schützt, den Halt im Leben zu verlieren.
Auch sozialpsychologische Mechanismen tragen zu dieser Distanzierung bei. Menschen neigen dazu, sich von „fremden“ oder „anderen“ Gruppen abzugrenzen, und hier kommt die Psychologie der Ausgrenzung ins Spiel. Obdachlose Menschen werden oft als Außenseiter betrachtet, die nicht zur „normalen“ Gesellschaft gehören. Diese psychologische Distanzierung führt dazu, dass ihre Menschlichkeit in den Hintergrund rückt – sie werden zur „Problematik“ oder „Belästigung“ im Stadtbild. Durch diesen Perspektivenwechsel verlieren viele Menschen ihr Mitgefühl und die Fähigkeit zur Empathie, da die Obdachlosen nun als Gefahr oder „Makel“ erscheinen, der ihre eigene Sicherheit bedrohen könnte. Diese psychologische Distanzierung macht es einfacher, den Anblick von Menschen in Not zu ignorieren und stattdessen in eine eigene, scheinbar sichere Komfortzone zurückzukehren.
Die Verinnerlichung von Stigmatisierung und Abwertung beginnt zudem oft schon im Kindesalter, ob bewusst oder unbewusst. Viele von uns sind mit Sprüchen oder Erzählungen aufgewachsen, die suggerieren, dass Obdachlosigkeit etwas ist, das nur „anderen“ passiert – „gefährlichen“, „unverantwortlichen“ oder „faulen“ Menschen. Diese frühe Prägung führt dazu, dass wir im Erwachsenenalter dieselben Vorurteile weitertragen und festigen. Die Stigmatisierung von Menschen in prekären Lebenslagen wird so zum Teil unseres kulturellen Gedächtnisses, das sich immer wieder selbst bestärkt.
Schließlich spielt die Rolle der Medien eine zentrale Rolle. Obdachlose Menschen werden oft stereotyp dargestellt und selten in all ihrer Komplexität oder Würde gezeigt. Stattdessen werden Geschichten hervorgehoben, die Kriminalität, Sucht oder psychische Probleme in den Vordergrund stellen – Aspekte, die zur Verstärkung der Vorurteile beitragen. Diese verzerrte Darstellung schürt Ängste und vermittelt den Eindruck, dass Obdachlosigkeit in erster Linie ein Problem des individuellen Verhaltens und nicht der gesellschaftlichen Strukturen ist.
Der Mangel an echten Hilfsangeboten, die das Problem an der Wurzel packen, wird dann oft durch „Sicherheitsmaßnahmen“ ersetzt, um die „öffentliche Ordnung“ zu schützen. Durch das Vertreiben von Obdachlosen aus dem öffentlichen Raum wird die Stigmatisierung weiter vorangetrieben, und das Problem wird aus dem Blickfeld der breiten Bevölkerung entfernt – aber eben nicht gelöst. Solche Maßnahmen stärken das Gefühl der Ausgrenzung und der Abwertung, da sie suggerieren, dass Obdachlose nicht in die Gesellschaft „gehören“.
Unsere Gesellschaft hat sich für diesen Weg entschieden, weil Stigmatisierung ein einfacher Mechanismus ist, um komplexe soziale Probleme zu vereinfachen. Doch diese Entscheidung ist fatal, da sie die dringend benötigte Veränderung behindert und Menschen, die ohnehin schon unter der Last der Armut und Ausgrenzung leiden, weiter isoliert und entmenschlicht.
Die Art und Weise, wie unsere Gesellschaft Obdachlosigkeit behandelt, hat auch viel mit der tief verwurzelten Idee einer „Leistungsgesellschaft“ zu tun, in der Wert und Anerkennung eng mit Erfolg, Produktivität und dem Erreichen persönlicher und beruflicher Ziele verknüpft sind. Wer in dieser Logik versagt – und so wird es oft betrachtet –, wird schnell als nicht wertvoll oder als „Bürde“ wahrgenommen. Dabei wird oft verkannt, dass solche „Misserfolge“ meist keine persönlichen Entscheidungen sind, sondern das Resultat vieler sozialer, wirtschaftlicher und auch psychischer Faktoren.
Die Leistungsgesellschaft suggeriert, dass alle Menschen die gleichen Chancen haben und daher auch die gleichen Möglichkeiten, Erfolg zu erreichen. Doch diese Annahme blendet aus, dass Armut, soziale Herkunft und individuelle Lebensumstände einen enormen Einfluss auf die persönlichen Möglichkeiten haben. Obdachlose Menschen haben selten Zugang zu den Ressourcen, die notwendig wären, um aus ihrer Lage auszubrechen – und die Gesellschaft selbst trägt wenig dazu bei, diesen Zugang zu verbessern.
Psychologisch gesehen wirkt die Leistungsgesellschaft als moralisches Bewertungssystem. Wer „gut funktioniert“, erhält Anerkennung und Privilegien, während diejenigen, die straucheln, von diesem System an den Rand gedrängt werden. Dieser Mechanismus führt dazu, dass Hilfebedürftige, wie beispielsweise Obdachlose, als „Verlierer“ angesehen werden. Sie passen nicht in das Bild der Leistungsgesellschaft und erinnern andere ständig daran, dass Erfolg nicht immer in der eigenen Hand liegt – etwas, das viele lieber verdrängen. Denn was würde es bedeuten, wenn auch jemand, der „alles richtig“ gemacht hat, plötzlich ohne eigenes Verschulden alles verlieren könnte?
Ein zentraler Aspekt der Stigmatisierung von Obdachlosen ist daher die Angst davor, dass das eigene Leben plötzlich in eine ähnliche Richtung verlaufen könnte. In einer Gesellschaft, in der Individualismus und Eigenverantwortung hochgehalten werden, wird der Gedanke an ein „Scheitern“ und damit an die Möglichkeit der eigenen Hilfsbedürftigkeit zum Tabuthema. Die Leistungsgesellschaft verstärkt das Gefühl, dass Unterstützung und Mitgefühl keine Priorität sind – die Hilfe, die nötig wäre, wird daher oft durch Stigmatisierung ersetzt, da sie einfacher und bequemer ist.
Indem Obdachlose stigmatisiert werden, versucht die Gesellschaft, sich von einem Problem zu distanzieren, das eigentlich jeden betreffen könnte. Gleichzeitig wird das Bedürfnis nach sozialer Absicherung und kollektiver Verantwortung unterdrückt, weil es als Schwäche in einer Leistungsgesellschaft gilt. Statt die strukturellen Probleme anzugehen, werden die betroffenen Menschen als das „Problem“ angesehen und aus dem öffentlichen Leben verdrängt. Die Leistungsgesellschaft bietet also scheinbar eine Rechtfertigung dafür, Menschen, die nicht ins Bild passen, auszugrenzen und ihnen die notwendige Hilfe zu verweigern.
Ein letzter Punkt, der das Thema Obdachlosigkeit in der Gesellschaft verdeutlicht, sind die oft subtilen, aber bewusst durchgeführten Maßnahmen, die darauf abzielen, obdachlose Menschen aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen und ihnen die wenigen verbliebenen Rückzugsorte zu nehmen. Dazu zählen speziell gestaltete Bänke, deren Form das Liegen unmöglich macht, oder Mülleimer, die so konzipiert sind, dass Flaschen und Pfand schwer erreichbar sind. Diese Maßnahmen, häufig als „defensive Architektur“ bezeichnet, sind darauf ausgelegt, Menschen am Überleben im öffentlichen Raum zu hindern und ihre Existenz buchstäblich „aus dem Bild“ der Gesellschaft zu verbannen. Sie zwingen Obdachlose dazu, immer weiter in die versteckten Winkel einer Stadt abzudriften, wo sie noch weniger Sichtbarkeit und daher weniger Unterstützung erfahren.
Diese Strategien sind symptomatisch für eine Gesellschaft, die das Problem der Obdachlosigkeit lieber „wegorganisiert“, als es an der Wurzel anzupacken. Es ist eine Art visuelle und psychologische Säuberung des öffentlichen Raums, die darauf abzielt, die Augen der „bequemen Gesellschaft“ von der Realität der Obdachlosigkeit abzuschirmen. Im Kern geht es darum, den Anschein zu wahren, dass die Gesellschaft funktioniert, dass alle Menschen sicher und versorgt sind, und dass Armut und Not kein Teil des Alltagsbildes sind.
Defensive Architektur spiegelt jedoch auch eine tiefere psychologische Haltung wider: Anstatt sich mit der Not anderer auseinanderzusetzen, ist es oft einfacher, den Kontakt zu vermeiden und sich von denjenigen zu distanzieren, die weniger Glück hatten. Diese Maßnahmen führen nicht nur zu weiterer Stigmatisierung, sondern verstärken auch das Gefühl von Wertlosigkeit und Isolation bei den Betroffenen. Indem Menschen im öffentlichen Raum verwehrt wird, eine vorübergehende Ruhe oder eine mögliche Einkommensquelle durch das Sammeln von Pfand zu finden, wird ihnen auch ein Stück ihrer Menschlichkeit genommen. Sie werden nicht mehr als Menschen mit legitimen Bedürfnissen wahrgenommen, sondern als Problem, das gelöst oder zumindest aus den Augen geschafft werden muss.
Diese Maßnahmen sind das sichtbare Resultat einer Haltung, die tief in unserer Gesellschaft verankert ist. Die Frage bleibt jedoch: Wollen wir tatsächlich in einer Welt leben, die Probleme nicht löst, sondern einfach versteckt? Wo das „unsichtbar Machen“ eine anerkannte Methode ist, anstatt soziale Sicherheit und Menschlichkeit in den Vordergrund zu stellen?
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